Gegen Folter und Zwangsbehandlungen in deutschen Psychiatrien

Gegen Folter und Zwangsbehandlungen in deutschen Psychiatrien

Dear friends and supporters,
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Liebe Unterstützerinnen, liebe Unterstützer,
Begriffe wie psychiatrische Zwangsbehandlung und Folter erinnern an dunkle Kapitel deutscher Geschichte oder an Geschehnisse in autoritären Systemen. Die Vorstellung, dass sich psychiatrische Zwangsbehandlungen und Foltermaßnahmen auch in dem wiedervereinigten Deutschland ab 1990 ereigneten und nach wie vor angewandt werden, erscheint zunächst abwegig. Die beim underDog-Verlag aus Hamburg veröffentlichenden Autoren schildern entweder selbst erlebte Erfahrungen oder jene von in deutschen Psychiatrien untergebrachten Angehörigen. Als Autor des Buches “Die Stimmen der Übriggebliebenen“ gehöre ich selbst zu diesem Personenkreis. Während einer Lebenskrise nach einer Tumorerkrankung und einer Identitätskrise nach dem Erkennen der eigenen Homosexualität im Alter von 17 Jahren wurde ich, ohne dass ärztlicherseits nach den Ursachen meines Zustandes gefragt wurde, aus der Psychiatrie Neubrandenburg in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung in Ueckermünde untergebracht. Nach dem achtwöchigen Aufenthalt war ich mehrfachbehindert, konnte anderthalb Jahre kaum sprechen und habe zehn Jahre gebraucht, um in mein Leben zurückzukehren. Unter den Folgen der dort erlebten Zwangsbehandlungen und Foltermaßnahmen leide ich noch heute, während die Ärzte und das Personal von damals nach wie vor tätig sind, ohne je zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Die im Jahr 1997 bestehenden Kontrollmechanismen, sofern es diese überhaupt gab, konnten das an mir und an meinen Mitpatienten bzw. Wegbegleitern begangene Unrecht nicht verhindern, so, wie auch heute das Schicksal von in geschlossenen Einrichtungen untergebrachten Menschen völlig vom Willen und der fachlichen Einschätzung des dort tätigen Fachpersonals bestimmt wird. Dank meiner inneren Stärke und des Beistands einer mir nahestehenden Person konnte ich mich aus den Fängen des Systems Psychiatrie der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie in Neubrandenburg und Ueckermünde befreien, und mich durch jahrelange, intensive Anstrengungen - trotz der sich im Nachgang der Unterbringung fortsetzenden Diskriminierungen - zurück ins Leben kämpfen.
Die bisher über die Geschehnisse in den zuvor genannten Psychiatrien informierten Behörden (u.a. Ministerium für Gleichstellung, Arbeit und Soziales des Landes Mecklenburg-Vorpommern und regionale Beauftragte, Bundesbehindertenbeauftragte) reagieren trotz größerer medialer Berichterstattungen über das Buch “Die Stimmen der Übriggebliebenen“ überhaupt nicht.
Während wir, die Überlebenden psychiatrischer Folter und Zwangsbehandlungen und Zeugen der Willkürpraxis in den “normalen“ Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie in Deutschland, vergeblich um unsere Rechte kämpfen, bei verantwortlichen Stellen bis heute kein Gehör finden und politisch keine Lobby haben, laufen die Angehörigen von Insassen des Maßregelvollzugs bzw. der Forensischen Psychiatrien, wie z. B. Bianka Perez und Natalia Tenenbaum, beim Versuch, die Menschenrechtsverletzungen in diesen Einrichtungen aufzudecken, ebenfalls gegen unüberwindliche Mauern behördlicher Allmacht und Desinteresse. Ohne die grundsätzliche Möglichkeit straffällig gewordene, psychisch Erkrankte in forensischen Einrichtungen unterzubringen, in Frage stellen zu wollen, zeigen die Betroffenen Michael Perez und Ernest Tenenbaum, wie die Folgen jahrelanger Unterbringung in der Forensik verbunden mit jahrelanger interner Unterbringung in Isolation (Michael sitzt seit 444 Tagen und Ernest seit dem 17.10.2013 ohne Unterbrechung in Insolation), die zwangsweise Verabreichung von Neuroleptika, das Verbot die Muttersprache zu verwenden, wochenlange Fixierungen und Körperverletzungen durch das Personal zu Traumata und körperlich psychischen Schädigungen geführt haben, die den Genannten bei Folgebegutachtungen als Bestandteil des bestehenden Krankheitsbildes zugerechnet werden und in anderen Fällen gar zum Suizid beigetragen haben. Die Aussicht der Betroffenen, die diese “Behandlungen“ erleben mussten bzw. müssen, ihr Leben wieder selbstbestimmt und therapiert in die Hand zu nehmen, ist praktisch ausgeschlossen. Juristisch gegen ärztliche Sachverständigengutachten, geschweige denn gegen die Ärzteschaft vorzugehen, bleibt für Opfer des Systems Psychiatrie in Deutschland ein mühseliger, meist aussichtsloser Kampf.
In Kenntnis dessen, dass eine Mehrzahl von gleichfalls Betroffenen, die nicht die Kraft aufbringen konnten und können, die Fähigkeiten verloren haben, ihre Stimme gegen diese unmenschlichen Zustände und Behandlungen in deutschen Psychiatrien zu erheben, die trotz der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention nachweisbar fortlaufend bestehen, fordere ich die Vertretung des deutschen Volkes auf, im Bewusstsein, dass noch im Jahr 2016 in deutschen Psychiatrien Menschenleben systematisch zerstört werden, sich dem Thema anzunehmen und bitte um die parlamentarische Beschäftigung mit folgenden Zielsetzungen:
· Externe Prüfung der im Buch Die Stimmen der Übriggebliebenen und in den mitgelieferten Beiträgen aufgeführten Einzel- bzw. Todesfälle (Antje Wienberg; Stephan Dalitz; Simone Stark) und weiterer bisher eventuell unbekannter Fälle von Machtmissbrauch, menschenunwürdiger Behandlung bzw. Folter und psychiatrischer Zwangsbehandlung, insbesondere in nachfolgend aufgeführten Psychiatrien bzw. Krankenhäusern mit neurologischen Abteilungen:
o Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Neubrandenburg
o AMEOS Klinik für Psychotherapie, Psychiatrie und Psychosomatik in Ueckermünde (1997 Christophorus-Krankenhaus)
o Psychiatrische Klinik in Teupitz
· Es besteht die Notwendigkeit der fachlichen Überprüfung sämtlicher erstellter Gutachten über Menschen durch die Chef-, Ober- und Assistenzärzte der benannten Einrichtungen und den mitwirkenden Behörden (z. B. der Sozialpsychiatrische Dienst in Neubrandenburg), denen bei diesen angeregten Prüfungen Fehlverhalten nachgewiesen werden kann.
· Die Veröffentlichung der umfassenden statistischen Zahlenwerke zu psychiatrischen Zwangsbehandlungen und Tötungs-, und Todesfällen in diesen Einrichtungen von 1990 bis 2016 muss lückenlos erfolgen.
· Die Öffentlichkeit wurde bis zum heutigen Tag nicht über den Verbleib und die weitere gesundheitliche Entwicklung der in der Reportage Die Hölle von Ueckermünde-Psychiatrie im Osten von Ernst Klee gezeigten Menschen informiert. Geschweige denn liegen ausführliche Auskünfte über den beruflichen Werdegang des mit Klees Reportage in Verbindung stehenden Personals vor. Dies bedarf einer Aufklärung.
·In der Angelegenheit des seit Jahren in der Klinik Nette-Gut für Forensik einsitzenden Michael Perez und des derzeit in der Forensik Ueckermünde einsitzenden Ernest Tenenbaum muss die Einleitung von Maßnahmen erfolgen, die zur Überwindung der in den Einrichtungen erlebten Traumata beitragen und ihnen Genesung ermöglichen. Für die Betroffenen müssen passende, menschenwürdige Therapieangebote geschaffen werden, nachdem die unmenschlichen Unterbringungsmaßnahmen im Maßregelvollzug zur massiven Verschlechterung ihres Zustandes und zu Persönlichkeitsänderungen geführt haben. Daher ist die externe Prüfung eventueller Tötungs-, und Todesfälle und weiterer bisher eventuell unbekannter Fälle von Machtmissbrauch, menschenunwürdiger Behandlung bzw. Folter und psychiatrischer Zwangsbehandlung in folgenden Einrichtungen nötig:
o Klinik Nette-Gut für Forensik
o Forensisch-psychiatrische Abteilung Alzey
o Forensik Stralsund
o Forensik Ueckermünde
· Die zeitnahe Schaffung einer zentralen Anlaufstelle für das Personal psychiatrischer Kliniken, um ihnen anonym Meldungen über Machtmissbrauch und Folter zwecks externer Überprüfung zu ermöglichen, ist unabdingbar.
· Unter Berücksichtigung der Intensität der Folgen, die mit einer psychiatrischen Zwangsbehandlung und Unterbringung in Zusammenhang stehen, insbesondere bei Entscheidungen mit Dauerwirkung, muss ein System fortlaufender Kontrolle der handelnden Psychiaterinnen und Psychiater installiert werden, sodass zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass es zu fachlichen Fehleinschätzungen mit irreversiblen Folgeschäden kommt, auf ein Mindestmaß reduziert wird. Ein Austausch und Hinzuziehen von bekannten bzw. befreundeten Kollegen aus eigenen oder umliegenden Kliniken ist genauso unzureichend wie das Hinzuziehen eines gerichtlich bestellten Verfahrenspflegers in Unterbringungsverfahren und wird den Betroffenen nicht gerecht.
· Die Begründung eines bundesweiten Fonds ist nötig, der Opfern psychiatrischer Zwangsbehandlung und Folter eine angemessene Entschädigung zuteil werden lässt, ohne unverhältnismäßig hohe Nachweishürden zu errichten.
· Die Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für die Geschehnisse in deutschen Psychiatrien unter Berücksichtigung der Besonderheiten mit der Unterbringung nach BGB, PsychKG und StGB.
· Hinwirken auf die Etablierung einer Erinnerungskultur über das in psychiatrischen Kliniken und Forensiken an Menschen begangene Unrecht, u. a. durch Errichtung von Mahnmalen an öffentlichkeitswirksamen Orten auf den Einrichtungsgeländen.
· Die mit diesen Kliniken in Zusammenhang angeregten Aufklärungsarbeiten müssen unter Herausgabe eines umfassenden Abschlussberichtes an die Öffentlichkeit erfolgen.
Im Sinne der “Stimmen der Übriggebliebenen“, der unbenannten Toten und Opfer psychiatrischer Zwangsbehandlung und Folter in Deutschland,
Dr. Christian Discher
Dear friends and supporters,
words such as forced psychiatric treatment and torture recall a dark chapter in Germany’s history as well as similar incidents occurring in authoritarian systems. The thought that psychiatric forced treatment and acts of torture have also occurred in a re-united Germany from 1990 onwards—in fact, are still happening today—may at first seem far-fetched or even absurd. The author, whose work has been published by the Hamburg-based publisher underDog Verlag, describes experiences either he himself underwent or those undergone by individuals treated in German psychiatric hospitals and institutions. As the author of the book “The Voices of Those Remaining,” I also personally belong to this group of people. At 17, while in the middle of a life crisis after a tumor illness as well as an identity crisis following my realization I was homosexual, I was moved from the psychiatric hospital in Neubrandenburg where I had been housed and committed to a closed psychiatric ward in Ueckermünde—all this without any medical inquiry as to the reasons or causes of my condition. After an 8-week stay, I became severely disabled and traumatized. After this experience, I could barely speak for 18 months; in fact, it took me ten years to truly rejoin my life. To this day, I still suffer from the effects of the forced treatment and acts of torture I underwent, which are all the more painful since I am aware the same doctors and staff I encountered have kept and continued to work in their positions without once being held responsible for their actions. The control mechanisms in place in 1997, if they even existed at all, could not prevent the injustices that happened both to me as well as my fellow patients and their loved ones. The same continues to be true concerning the fate of people held in closed institutions who are completely at the whim and mercy of the assessments made freely by the staff at hand. Thanks to my inner strength and the support of a person close to me, I was able to free myself from the insidious web of the psychiatric system and psychiatric and psychotherapeutic clinics for in Neubrandenburg and Ueckermünde. After many long years of intense struggle—and despite continuing discrimination after my release—I was finally able to reclaim my life.
Authorities such as the Ministry for Equality, Labor and Social Affairs in state of Mecklenburg-Western Pomerania as well as regional and federal disability commissioners have been informed about the activities occurring in the psychiatric institutions mentioned above; however, none have responded in any way despite the extensive media coverage of my book “The Voices of Those Remaining.”
While we, the survivors of psychiatric torture and forced treatment and witnesses of the arbitrary practice of “standard” psychiatric and psychotherapeutic clinics in Germany are fighting in vain for our rights, and to this day have not been heard by the powers that be or supported by any political lobby, the loved ones of the detainees and inmates of forensic psychiatric hospitals, for example, Bianka Perez and Natalia Natalia Tenenbaum, have also run up against the unsurmountable wall of official omnipotence and disinterest when seeking to expose the human rights violations taking place in these institutions. Victims such as Michael Perez and Ernest Tenenbaum are both examples of the results of many years’ commitment in forensic institutions combined with years of being kept in complete isolation for uninterrupted periods of time (Michael has been placed in isolation for 444 days and Ernest every single day since October 17, 2013). These two young men are unfortunate symbols of the consequences of committing delinquent, mentally ill individuals to forensic psychiatric institutions without offering the fundamental possibility to question the effectiveness of such measures. The compulsory administering of neuroleptics, forbidding the use of one’s native language, being strapped down for weeks at a time as well as physically harmed by staff, these and many other horrors have led to trauma and physical and psychic damage, damage which in some cases was later attributed to being part of the individual’s existing disease and, in others, even went so far as to drive the person to suicide. The chance that individuals who have had to endure or are currently enduring these “treatments” can go on to live self-determined lives is basically out of the question. Legally challenging medical expert reports, let alone taking on the medical profession, is in most cases a laborious, hopeless struggle for victims of the psychiatric system in Germany.
In light of the fact that the majority of those affected no longer have the power, in fact have lost the ability to raise their voices against the inhumane conditions and treatments of the German psychiatric system—and this despite the ratification of the UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities—I urge the German people to become aware of these injustices and take action against them. Therefore, the stories of people’s lives which have been systematically destroyed by German psychiatric institutions will finally be addressed. Please ask policy makers to set the following goals for this year:
· External examination of the individual fates and/or deaths of the victims mentioned in the book “The Voices of Those Remaining” (Antje Wienberg; Stephan Dalitz; Simone Stark) as well as other possibly still undiscovered cases of the misuse of power, inhumane treatment or torture and psychiatric forced treatment, particularly in the following psychiatric clinics or hospitals with neurological departments:
o Psychiatric and psychotherapeutic clinics in Neubrandenburg
o AMEOS Clinic for Psychotherapy, Psychiatry and Psychosomatic in Ueckermünde (1997 Christophorus Hospital)
o Psychiatric clinic in Teupitz
· There is need for a professional review of psychological assessments made by head, senior and assistant physicians in the institutions mentioned as well as the authorities linked to them (e.g., the Social Psychiatric Service in Neubrandenburg), whose wrong doings can be proven by calling for this inspection.
· Comprehensive statistical data of cases of psychiatric forced treatments, killings and deaths in these institutions between 1990 and 2016 must be published and be one hundred percent complete.
· To this day, the public has not been informed about the whereabouts and further health development of the individuals depicted in the documentary film “The Hell of Ueckermünde. Psychiatry in the East” (Die Hölle von Ueckermünde. Psychiatrie im Osten) by Ernst Klee. In addition, there is also little information about the professional career path of the staff connected to Klee’s film. This must be explained.
·In the case of Michael Perez, who has been held at the Nette-Gut Forensic Clinic, and Ernest Tenenbaum, who is currently being kept at the Forensic Hospital in Ueckermünde, measures must be introduced to enable their recovery from the trauma experienced in these institutions. For those affected, suitable and humane therapeutic options must be created to allow them to cope with the inhumane conditions they experienced in these forensic facilities which led to an extremely significant worsening of their condition as well as changes to their personalities. Thus, an external review of possible killings and cases of death, as well as uncovering further cases of the misuse of power, inhumane treatment or torture and psychiatric forced treatment yet to be discovered, is particularly necessary in the following institutions:
o Nette-Gut Forensic Clinic
o Forensic psychiatric department at Alzey
o Stralsund Forensic Hospital
o Ueckermünde Forensic Hospital
· The timely creation of a central contact center to enable staff at psychiatric clinics to anonymously report the misuse of power as well as torture so that an external review can be instated is absolutely mandatory.
· Due to the severity of the aftermath brought on by psychiatric forced treatment and commitment, a continual monitoring system of acting psychiatrists and psychiatric staff must be put in place—especially in cases where decisions have a lasting impact. When enacted, this monitoring system could at least reduce to a minimum the possibility that professional misjudgments create irreversible damage. Allowing colleagues—who are acquainted with or possibly even friends with the staff—from either the clinic itself or clinics nearby to do the monitoring is completely insufficient. Likewise, making use of a court-appointed guardian in commitment procedures will also not offer justice for those involved.
· A nationwide fund must be founded to offer proper compensation to the victims of psychiatric forced treatment and torture, without excessively high levels of proof required from the victim in question.
· Public awareness concerning what takes place in German psychiatric clinics and institutions must be increased, taking specifically into account commitment according to the rules, laws and stipulations laid out in mental health laws.
· We must work towards establishing a culture of memory (e.g., setting up memorials at the institutions which can be easily viewed by the public) around the injustices committed against people in psychiatric and forensic clinics and hospitals.
· The awareness raising work undertaken and linked to these clinics and hospitals must be accompanied by a comprehensive final report made accessible to the public.
In the name of “The Voices of Those Remaining” as well as the unnamed victims, both living and deceased, of psychiatric forced treatment and torture in Germany,
Dr. Christian Discher