Keine Schulöffnung ohne tragfähiges Konzept zur Organisation, Hygiene UND Psychohygiene

Keine Schulöffnung ohne tragfähiges Konzept zur Organisation, Hygiene UND Psychohygiene

Startdatum
3. Mai 2020
Petition an
die Vorsitzende der Kultusminsterkonferenz Dr. Stefanie Hubig
411 Unterschriften:Nächstes Ziel: 500
Jetzt unterstützen

Warum ist diese Petition wichtig?

Gestartet von Stefanie Dürl

Zurück in die Schule – Homeschooling und Hygiene in der Schule ohne Psychohygiene?

In wenigen Tagen wird in Berlin erneut über die weiteren Maßnahmen zur Schulöffnung diskutiert.

Laut dem Rahmenkonzept der Ministerrunde sollen alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland vor den Sommerferien in die Schule zurückkehren, auch wenn dort keine reguläre Beschulung erfolgen soll. Vielmehr sollen die Lernenden die Schule tage- oder wochenweise besuchen.

Lehrergewerkschaften VBE und GEW sowie der Bundeselternrat fordern: „Der Gesundheits- und Infektionsschutz der Lehrenden und der Lernenden muss im Zentrum aller Entscheidungen stehen, wenn die Schulen wieder schrittweise öffnen.“ Hygienische und organisatorische Fragen (Beförderung, Sitzordnung, zeitliche Verteilung, Desinfektionsschutz, Maskenpflicht) werden noch immer ausführlich diskutiert.

Bundesregierung, Ministerien, Schulämter, Schulleiterinnen und Schulleiter, Lehrerinnen und Lehrer sowie Schulelternbeiräte – alle sind bemüht, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, haben in den vergangenen Wochen viel geleistet, um dieser neuen und völlig ungewohnten Lage Herr zu werden.  

Sind die Maßnahmen verifizierbar und wie sieht der Alltag der Betroffenen aus?

Vieles wird in den letzten Tagen deutlich(er). Nicht zuletzt durch erste Studien wie die des Schweizer Bildungsforschers Stephan Huber, aber auch durch den zunehmenden Austausch in den Sozialen Medien.

Aus Sicht der Lehrenden hat man es hier seit Beginn der Corona-Krise mit dem sogenannten Homeschooling mit einer Maßnahme zu tun, die von heute auf morgen völlig unvorbereitet aus dem Boden gestampft werden musste. Man war überrascht, zum Teil auch überfordert, aber sicher haben Lehrerinnen und Lehrer in den letzten Wochen ihr Bestes gegeben.

Der nun geplante Schichtbetrieb wird zu einer Mischung aus Präsenzunterricht und der Fortführung des Homeschoolings führen. Das Bild, das in den Medien zu diesem Thema vermittelt wird, zeigt eine verzerrte Realität: Es zeigt keine verzweifelten Kinder, die die Aufgaben nicht bewältigen können, es zeigt keine Kinder in sozialen Brennpunkten, die sich an Einkaufszentren tummeln, die dortigen Parkplätze zu Spielplätzen umfunktionieren, sehr wohl Kontakt zu vielen anderen haben und erst gar kein Homeschooling wahrnehmen können, weil schon die technischen Voraussetzungen zu Hause nicht gegeben sind. Das Bild zeigt ebenfalls keine verzweifelten Eltern, die aufgrund der Dauerbelastung Homeschooling mit einem oder mehreren Kindern am Limit sind, ihre Arbeitsstelle verloren haben und aufgrund von Existenzängsten nicht mehr ruhig schlafen können. Bilder aus den Wohnzimmern der oberen sozialen Schichten werden gezeigt: Eltern, die Aufgaben erklären (können), zwei- oder 3 IPads auf dem Tisch, während Mütter und Väter im Homeoffice arbeiten. 

In den sozialen Netzwerken aber melden sich immer mehr Mütter und Väter zu Wort, die genau diesem Bild widersprechen: „Irgendwann fingen wir an, uns anzuschreien, wurden müde, erschöpft, wütend gereizt. Mittlerweile weine ich unter der Dusche. Mittlerweile weint auch mein Mann. Wir sind am Ende mit unseren Kräften. Wir sind gnadenlos überfordert.“ sagt die dreifache Mutter Uta Kunkler der tz. (unter: https://www.tz.de abgerufen am 02.05.2020)

„Negative Reaktionen der Eltern, die aus den qualitativen Befunden hervorgehen, beziehen sich insbesondere auf die eigene Überlastung und Überforderung oder die ihrer Kinder.“ (Huber, Stephan et al.: „COVID-19 – aktuelle Herausforderungen in Schule und Bildung: Erste Befunde des Schul-Barometers in Deutschland, Österreich und der Schweiz“, unter: https://www.waxmann.com (abgerufen am 03.05.2020)). Auch die Landeselternbeiräte schlagen Alarm: „Bei uns kommen sehr viele Hilferufe an. Das Telefon steht nicht mehr still“, sagte der Vorsitzende des Hessischen Elternbeirats Korhan Ekinici bereits im März dem Hessischen Rundfunk.

Bilder nach der Öffnung der Schule für höhere Klassen zeigen nicht, wie es an den Schulen wirklich aussieht. Kinder und Jugendliche, die das Kamerabild nicht erfasst, stehen in Gruppen zusammen, um auf den „geregelten Einlass zu warten.“  ZDF, Nachrichtensender, große deutsche Zeitungen suchen sich „Vorzeigeschulen“. Dies ist keine Wahrheit, sondern gelenkte Wahrnehmung! Vieles wird in den Berichten verschwiegen. Mut ist in diesem System eine Säge für die Karriereleiter. Diskussionen unter Lehrerinnen und Lehrern offenbaren die Wahrheit.

Homeschooling – oft noch eher schlecht als recht!

Als Lehrender weiß man, dass unvorbereitetes Homeschooling nicht funktionieren KANN, aber man ist gezwungen, die Maßnahmen umzusetzen. Derzeit senden Lehrerinnen und Lehrer noch immer meist undifferenzierte Arbeitsaufträge, sie treffen eine recht willkürlich erscheinende Auswahl (auch wenn es nach und nach besser zu koordinieren ist) an sogenannten „Lernangeboten“. Arbeitszeitvorgaben erscheinen ebenso willkürlich und entsprechen nicht annährend dem Umfang der Wochenarbeitspläne, die gesendet werden. Differenzierte Erläuterungen zu den Aufgaben fehlen – wer die Aufgabe nicht versteht und niemanden zuhause hat, der sie erläutern kann, nicht über die Möglichkeit (technisch oder terminlich) verfügt, den Klassenlehrer zu erreichen, scheitert schon nach dem ersten Blick aufs Papier – insofern er/sie nicht bereits an den technischen Hürden wie dem Umgang mit Dropbox, Drucker und Online-Lernplattformen verzweifelt ist.

Es ist eine Profession, jedes Kind in seinem individuellen Lernprozess wahrzunehmen, zu unterstützen und zu fördern. Im regulären Unterricht werden verschiedene, in Qualität und Quantität differenzierte Aufgaben, angeboten. Diese Aufgaben werden auf verschiedenste Art und Weise erläutert, damit jeder und jede „versteht, was zu tun ist“ und nicht bereits im ersten Schritt scheitert. Dem Lehrenden ist bewusst, um mit Prof. Schulz von Thun zu reden, dass nicht jedes geäußerte Wort beim Empfänger das auslöst, was man beabsichtigt. Es braucht viel mehr als ein Arbeitsblatt mit einem vorangestellten Arbeitsauftrag. Selbst nach einer ausführlichen Besprechung des Arbeitsauftrags kommen immer wieder Rückfragen, die zum Teil erst während der Arbeitsphase entstehen.

Die aktuelle Situation überfordert Lehrer, Eltern und Lernende gleichermaßen.

Tatsache ist: Viele Lehrer geben ihr Bestes, sind aber auch hilflos, sagen, dass das, „was von oben kommt“ nicht umsetzbar ist. Sie fühlen sich wie „Versuchskaninchen“. Sie sind damit konfrontiert, ihre Arbeit gut machen zu wollen, ihre Schülerinnen und Schüler nicht im Stich lassen zu wollen. Sie haben keine Ahnung, wie Homeschooling gut funktioniert. Woher auch? Viele machen es so „gut man eben kann“. Andere haben schon aufgegeben. Viele haben selbst Angst vor Ansteckung und Erkrankung, sind chronisch krank, dürfen aktuell kein Schulgebäude betreten, weil sie zur sogenannten Risikogruppe gehören und fallen für den geplanten „Schichtbetrieb“ von vornherein ganz aus. Auch können Schulen für sie nicht einfach Vertretungskräfte einsetzen, weil hierfür eine langfristige Krankschreibung erforderlich ist. Die (Haupt-)Last wird von den (noch) gesunden Lehrkräften getragen werden müssen.

Das, was nun als „Plan zur schrittweisen Öffnung der Schulen“ diskutiert und erarbeitet wird, ist so wohl kaum umsetzbar. Neben den o.a. Problemen ist es auch Fakt, dass Abstandsregeln unmöglich einzuhalten sind, verfügen die meisten Schulen doch nur über einen, vielleicht zwei Eingänge, sind die Klassenräumen in vielen Gebäuden viel zu klein, Flure zu eng. Auch die Beförderung der Lernenden ist eine große Herausforderung.

Wer den Schulalltag kennt, weiß, dass es nicht funktionieren kann!

Schulen verfügen nicht über ausreichendes Reinigungspersonal, um Räume, Flure und Sanitäranlagen nach dem Schulbetrieb desinfizieren zu können, wie das Robert-Koch-Institut empfiehlt, oft gibt es nicht genügend Waschbecken, nicht überall warmes Wasser.

Kinder sollen 1,5m Abstand halten. Das Miteinander-Spielen ist untersagt, Sportunterricht wird ausgesetzt. Lehrer sollen durch vermehrte Pausenaufsicht die Einhaltung der Regeln überwachen.

Aber: Kinder, die 4 Wochen zuhause in einer Zweiwimmerwohnung „eingesperrt“ waren, lassen sich nicht derart beschränken. Sie sind KEINE Roboter. Auch ältere Kinder nicht. Abiturienten sind ebenso belastet wie jüngere Lernende. Der Druck des Abiturs führt bei vielen Schülerinnen und Schülern schon unter normalen Umständen zu einer psychischen Krise. Auch waren in den vergangenen Wochen keine normalen Vorbereitungen auf die Abiturprüfungen und die Zentralen Abschlussprüfungen (ZAP) möglich, was dem Grundsatz der Chancengleichheit widerspricht. Protesten aus der Schülerschaft wie in Nordrhein-Westfalen wird kein Gehör geschenkt. Auch diese Initiative fordert, die Schulen frühestens nach dem Ende der bundesweiten Kontaktbeschränkungen wieder zu öffnen. (Instagram: schulboykottnrw). Schülerinnen und Schüler, die jetzt an diesen Prüfungen teilnehmen müssen, werden zum Großteil nicht zu dem Ergebnis kommen, das unter normalen Umständen zu erreichen gewesen wäre.

Hygiene ohne Psychohygiene in der Schule?

Die Pläne der Kultusministerkonferenz klammert eine wesentliche Frage aus, nämlich die nach der psychischen Situation der Kinder und Jugendlichen. Hygiene ohne Psychohygiene?

Wir wissen, dass es in vielen Familien vermehrt zu Gewalt kommt. Wir wissen, dass diese Gewalt sich nicht lediglich gegen Erwachsene richtet, sondern auch Kinder trifft. Auch wenn die mediale Berichterstattung diesen Bereich (noch) ausklammert um nicht zu sagen totschweigt.

Viele Kinder und Jugendliche werden verändert in die Schule zurückkommen!

Aus der Trauma-Forschung haben wir die Erkenntnis, dass ein Trauma nicht einen „vereinzelten Auslöser“ benötigt, sondern dass es auch zur sogenannten Prozesstraumatisierung und zum langfristigen Bindungstrauma kommt. Bereits vor der Krise war die Zunahme von emotionalen Auffälligkeiten unübersehbar. Es besteht zusätzlich die große Gefahr, dass ohnehin vorhandene soziale Benachteiligung im gravierenden Ausmaß zunimmt. Es besteht die Gefahr eines ungeheuren Auseinanderdriftens. Auch hierzu findet man in der oben erwähnten Studie von Huber bereits erste Hinweise: „In der Konsequenz zeigen sich große Herausforderungen hinsichtlich Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. „Bildungs-Verliererinnen und -verlierer“ in der aktuellen Situation sind, so ist zu befürchten, wahrscheinlich Schülerinnen und Schüler aus sozio-ökonomisch (hoch) benachteiligten Elternhäusern.“

Bitte arbeiten Sie mit Nachdruck an einem Konzept, das die Frage beantwortet, wie Lehrerinnen und Lehrer den Kindern und Jugendlichen nach dieser Krise begegnen können.

Unterstützen Sie auch die Eltern, indem Sie sie entlasten. Das kann nur dadurch geschehen, dass Sie die Freiwilligkeit der bisherigen Aufgabenstellungen (auch rückwirkend) betonen und auf weitere Aufgaben, die ungefragt und automatisch wöchentlich in den E-Mail-Postfächern eingehen, generell verzichten. Viele Eltern und auch Kinder nehmen das „Angebot“ – u.a. aufgrund der unpräzisen Ausdrucksweise – nicht als solches wahr, empfinden es als ein Muss und auch Kinder haben Angst davor was geschieht, wenn sie die Aufgaben nicht erledigen – ein Teufelskreis.

Was ist konkret zu tun?

Wie aus den o.a. Ausführungen deutlich geworden ist, wird in der gegenwärtigen Diskussion die inhaltliche Seite betont und die emotionale Situation der Beteiligten weitgehend übersehen. Es sollten jedoch nicht nur hygienische, sondern auch psychohygienische Aspekte beachtet und gefördert werden.

Wir schlagen daher folgende Maßnahmen vor:

1. Arbeiten Sie gemeinsam mit Lehrern, Eltern, Schulpsychologen und Kinder- und Jugendpsychologen an einem Konzept, das die Kinder unterstützt, das Erlebte und Erfahrene zu verarbeiten. Ein solches Konzept sollte u.a. folgende Überlegungen berücksichtigen:

·  Wie können die Lernenden bei Schulbeginn nach der Krise „empfangen“ werden?

·  Wie können regelmäßige Gesprächsrunden implementiert werden, in denen etwa  über Erfahrungen im Homeschooling, über Gefühle, Ängste, Hilflosigkeit, aber auch Ressourcen und Resilienzen gesprochen wird.

·  Wie kann gewährleistet werden, dass die Beziehungsebene fokussiert wird und nicht die Inhaltsebene (Nachholen des Stoffes) in den Vordergrund rückt?

·  Wie erhalten Lehrende Hilfe, u.a. für solche Gespräche (z.B. Leitfaden zum Umgang mit Gefühlen)

·  Wie erhalten die Betroffenen weitere Unterstützung (Hinweise auf Netzwerke, psychologische Hilfe, …)

·   …

2. Schließen Sie die Schulen weiterhin und zwar solange bis zuverlässige Aussagen getroffen werden können, die eine Gefährdung der Lehrenden, der Lernenden und aller anderen, am Schulbetrieb beteiligten Personen, ausschließt. Sicher ist, dass Kinder und Jugendliche ihre Peergroups benötigen. Doch auch in einer Schule mit Abstandsregeln bleibt der Zugang zu anderen Kindern- und Jugendlichen verwehrt.

3. Verändern Sie die bisherige Form des Homeschoolings: Keine Wiederholung und Vermittlung von Lerninhalten. Schaffen Sie stattdessen ein freiwilliges Angebot, das die Kinder und Jugendlichen bereits jetzt auf den unter Punkt 1 genannten Schwerpunkt vorbereitet. Schaffen Sie ebenfalls mehr Transparenz: Weisen Sie öffentlich und länderübergreifend darauf hin, dass die Homeschooling-Aufgaben nicht in die Notengebung einfließen und betonen sie die absolute Freiwilligkeit. Erarbeiten Sie gemeinsam eine Alternative für das Schuljahresendzeugnis.

4. Bieten Sie in den Schulen weiterhin einen Bereitschaftsdienst an:

a)     Für Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen

b)     Für Kinder, deren Wohl im häuslichen Umfeld gefährdet ist

Wenn nicht lediglich auf das verstandesmäßige Lernen abgestellt wird, sondern auch auf die psychische Verarbeitung der Krise und ein verstärktes solidarisches Miteinander, dann kann diese wichtige und schlimme Erfahrung für die Kinder und Jugendlichen und ihre Entwicklung auch etwas Positives haben, wenigstens könnten aber dann negative Auswirkungen abgemildert werden.

Stefanie T. Dürl (seit 2002 Lehrerin an Gesamt-, Grund- und Förderschulen in Hessen, mehrjährige Lehrtätigkeit an der Justus-Liebig-Universität Gießen, zuletzt Ausbildungsbeauftragte am Studienseminar Marburg, Mutter eines neunjährigen Sohnes)

Christian Meyer (Dipl.-Psych.)

Jetzt unterstützen
411 Unterschriften:Nächstes Ziel: 500
Jetzt unterstützen